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Robert Elsie

Texte und Dokumente zur albanischen Geschichte

   
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Leo Trotzki, ca. 1917



Leo Trotzki, ca. 1917

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1912
Leo Trotzki:
Hinter einem Zipfel des Vorhangs

Leo Trotzki (1879-1940) war ein russischer Revolutionär und eine der Hauptfiguren der Oktoberrevolution des Jahres 1917. Durch die Theorie der permanenten Revolution leitete er eine Hauptrichtung des sowjetischen Marxismus ein. Bald nach der Revolution wurde Trotzki als Gründer und Kommandant der Roten Armee Volkskommissar des Auswärtigen und für Kriegswesen. Unter Stalin wurde er Ende 1927 als Abweichler aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen und ins Exil getrieben. In Mexiko wurde er schließlich durch einen sowjetischen Agenten ermordet.

Im September 1912, lange vor der russischen Revolution, wurde Trotzki durch die Kiewer Zeitung “Kiewskaja Mysl” als Kriegskorrespondent auf die Balkanhalbinsel entsandt, um von den Ereignissen der Balkankriege in Serbien, Bulgarien und Rumänien zu berichten. Bei der folgenden, nach dem serbischen Einfall in Kosovo und Mazedonien im Oktober 1912 verfassten Schrift handelt es sich um einen Bericht über die gegen die Albaner Mazedoniens und Albaniens verübte Gräueltaten, den Trotzki an seine Kiewer Zeitung zur Veröffentlichung schickte.

 

Das folgende wurde mir fast wörtlich - ich schrieb es unter seinem Diktat nieder - von einem meiner serbischen Freunde erzählt.

»Ich hatte die Möglichkeit - ob glücklicherweise oder unglücklicherweise, ist schwer zu sagen -, noch während des Krieges, einige Tage nach der Schlacht bei Kumanovo, Skopje (Üsküb) zu besuchen. Schon aufgrund der nervösen Unruhe, mit der in Belgrad meine Bitte nach einem Passierschein aufgenommen wurde, und aufgrund der künstlichen Hindernisse, die mir im Kriegsministerium in den Weg gelegt wurden, begann ich zu argwöhnen, daß die Leute, die die militärischen Ereignisse leiteten, kein besonders reines Gewissen haben mußten und daß dort unten wahrscheinlich Dinge geschahen, die nur sehr wenig der offiziellen Wahrheit der Regierungsmitteilungen entsprachen. Dieser Eindruck, oder besser die Vorahnung, verstärkte sich noch, als ich in Niš zufällig im Zug auf einen Offizier traf, der mit einem Auftrag an den Generalstab nach Skopje unterwegs war. Dieser Offizier ist ein guter und ehrlicher Mensch, den ich schon lange kenne. Doch kaum hatte er erfahren, daß ich nach Skopje fuhr und daß ich eine Erlaubnis dazu hatte, als er mit unverhüllter Feindschaft erklärte, für jemanden, der in Skopje nichts zu tun habe, gebe es keinen Grund, dorthin zu fahren, und die Behörden in Belgrad wüßten wohl nicht, was sie anrichteten, wenn sie ›Unbefugte‹ nach Skopje ließen, und so weiter. In Vranje, an der serbischen Grenze, als er sich davon überzeugt hatte, daß ich nicht von meinem Vorhaben abzubringen war, änderte er seinen Tonfall und begann mich weit ausholend auf die Eindrücke vorzubereiten, die ich in Skopje erhalten würde. ›Das sind alles sehr unangenehme Dinge, aber leider sind sie unvermeidlich. Selbstverständlich fehlten in den Darstellungen meines Freundes auch nicht die Verweise auf staatliche Erfordernisse. All das machte mich, muß ich zugeben, noch argwöhnischer. Das hieß, die Grausamkeiten, von denen ein vages Echo nach Belgrad durchdrang, waren kein Zufall, keine Einzelerscheinung und kein Ausnahmefall, überlegte ich, wenn ein bedeutender Offizier sie mit staatlichen Erfordernissen erklärte. Das hieß, hier handelte es sich um Absicht. Wessen Absicht? Der Militärbehörde? Oder ebenso der Regierung? Die Antwort auf diese Frage erhielt ich sehr bald - bei meiner Ankunft in Skopje.

Alte Ansichtskarte des Bahnhofs von Skopje.

Alte Ansichtskarte des Bahnhofs von Skopje.



Alte Ansichtskarte
des Bahnhofs von Skopje.

Das Grauen begann, sobald wir die alte serbische Grenze überschritten hatten. Gegen fünf Uhr abends näherten wir uns Kumanovo. Die Sonne war verschwunden, und es begann dunkel zu werden. Aber je dunkler der Himmel wurde, desto heller hob sich die furchtbare Illuminierung durch die Feuer gegen ihn ab. Es brannte überall ringsum. Ganze albanische Dörfer hatten sich in Feuersäulen verwandelt - in der Ferne, in der Nähe, sogar direkt am Eisenbahndamm. Das war das erste reale, authentische Bild, das ich vom Krieg sah, von diesem unbarmherzigen gegenseitigen Ausrotten der Menschen. Es brannten die Wohnstätten, es brannte das Hab und Gut, das von den Vätern, Großvätern und Urgroßvätern angesammelt worden war. In seiner flammenden Monotonie wiederholte sich das Bild den ganzen Weg über bis Skopje. Dort kamen wir gegen zehn Uhr abends an. Ich kletterte aus dem Viehwaggon, in dem ich die Reise unternommen hatte. Die ganze Stadt war schon verstummt - keine lebende Seele mehr auf der Straße. Nur unmittelbar vor dem Bahnhof stand eine Gruppe Soldaten, aus der man eine betrunkene Stimme vernahm. Alle, die mit dem Zug angekommen waren, hatten sich schon von dannen begeben, und ich war allein am Bahnhof zurückgeblieben. Ich ging auf die Gruppe zu. Vier Soldaten hielten ihre Bajonette in Bereitschaft, und in der Mitte der Gruppe standen zwei noch ganz junge Albaner mit ihren weißen Mützchen auf dem Kopf. Ein betrunkener Unteroffizier - ein Komitadshe (ein Četnik) - hielt in der einen Hand eine Kama (einen mazedonischen Dolch) und in der anderen eine Flasche Kognak. Der Unteroffizier gab Befehle. ›Nieder!‹ Die Albaner, halbtot vor Angst, fielen auf die Knie. ›Auf!‹ Sie standen auf. Das wiederholte sich einige Male. Dann setzte der Unteroffizier unter Drohungen und Beschimpfungen die Spitze seiner Kama an den Hals und auf die Brust seiner Opfer, dann zwang er sie von dem Kognak zu trinken, und dann... küßte er sie. Berauscht von der Macht, vom Kognak und vom Blut, amüsierte er sich nun, spielte mit ihnen, genauso wie ein böser, niederträchtiger Kater mit Mäusen. Das gleiche Gebaren und die gleiche Psychologie. Die anderen drei Soldaten, die nicht betrunken waren, standen streng da und paßten auf, daß die Albaner nicht flohen oder Widerstand leisteten und daß der Unteroffizier sein Vergnügen voll auskosten konnte. ›Das sind Arnauten‹, sagte ein Soldat sachlich zu mir. ›Gleich wird er sie abschlachten...‹

Mit Grauen lief ich von dieser Gruppe weg. Es hätte nichts gebracht, wenn ich versucht hätte, für die Albaner einzutreten. Man hätte diesen Soldaten und diesem Unteroffizier die Albaner nur mit der Waffe in der Hand wegnehmen können... Und all dies ereignete sich nun direkt am Bahnhof, wo gerade erst ein Zug angekommen war. Von Grauen gepackt, lief ich davon, um die Schmerzensschreie oder die Hilferufe nicht hören zu müssen...

In der Stadt oder genauer, auf den Straßen, war alles ruhig, wie ausgestorben. Um sechs Uhr abends schloß man immer alle Tore und Eingangstüren. Doch mit Einbruch der Nacht begannen die Komitadshi ihre Arbeit. Sie drangen in türkische und arnautische Häuser ein und taten dort immer das gleiche: Sie stahlen und töteten. Skopje hat 60 000 Einwohner, davon sind die Hälfte Albaner und Türken. Ein Teil von ihnen ist zwar geflohen, aber die überwiegende Mehrheit ist noch da. Und diese müssen nun das nächtliche Blutbad über sich ergehen lassen.

Brücke über den Wardar und Burghügel in Skopje (Foto: Hugo Grothe, 1913)

Brücke über den Wardar und Burghügel in Skopje (Foto: Hugo Grothe, 1913)



Brücke über den Wardar und
Burghügel in Skopje
(Foto: Hugo Grothe, 1913)

Zwei Tage vor meiner Ankunft in Skopje erblickten die Einwohner am Morgen unter der Hauptbrücke über den Vardar, also direkt im Stadtzentrum, Berge von albanischen Leichen, denen die Köpfe abgetrennt waren. Die einen sagen, das seien hiesige Albaner gewesen, die von den Komitadshi getötet wurden; die anderen sagen, die Leichen seien von den Fluten des Vardars angespült worden. Auf jeden Fall waren die Leute mit den abgetrennten Köpfen nicht im Gefecht getötet worden...

Skopje ist ein einziges Militärlager. Die Einwohner und besonders die Mohammedaner verstecken sich; auf den Straßen sind nur Soldaten zu sehen. Unter der Masse von Soldaten kann man serbische Bauern ausmachen, die aus allen Teilen Serbiens hierher gekommen sind. Unter dem Vorwand, sie würden ihre Söhne und Brüder suchen, laufen sie über das Kosovo polje und - plündern. Ich habe mich mit drei von diesen Marodeuren unterhalten. Sie waren aus der Šumadija, dem Zentralteil von Serbien, zu Fuß über das Kosovo polje gekommen. Der jüngste von ihnen, ein kleiner Mann vom Typ eines Draufgängers, brüstete sich damit, daß er auf dem Kosovo polje zwei Arnauten mit einem Schnellfeuergewehr erschossen habe. ›Es waren eigentlich vier dort, aber zwei konnten fliehen.‹ Seine Begleiter, ernste ältere Bauern, bestätigten seine Erzählung. ›Eines ist allerdings schlecht, klagten sie, ›wir haben zu wenig Geld mitgenommen. Man kann sich hier viele Ochsen und Pferde verschaffen. Da zahlst du einem Soldaten zwei Dinar (75 Kopeken), und er zieht los ins nächstgelegene albanische Dorf und bringt dir ein gutes Pferd. Ein Paar Ochsen, und noch dazu gute, kann man sich über die Soldaten für 20 Dinar besorgen.‹ Aus der Umgebung von Vranje begibt sich die Bevölkerung massenweise in die albanischen Dörfer und nimmt dort alles mit, was ins Auge fällt. Die Bauernweiber tragen auf ihren Schultern sogar die Türen und Fenster der albanischen Häuser davon.

Zwei Soldaten nähern sich mir. Es sind Kavalleristen aus einer Abteilung, die die Albaner in den Dörfern entwaffnet. Einer der Soldaten fragt, wo er eine Goldlira wechseln könne. Ich bitte ihn, sie mir zu zeigen, denn ich hatte noch niemals eine solche türkische Münze gesehen. Der Soldat schaut sich ängstlich um, dann zieht er die Lira aus seiner Geldbörse heraus, aber mit einer Bewegung, die deutlich erkennen läßt, daß er noch einige mehr in der Börse hat und bloß nicht will, daß andere das bemerken. Und eine türkische Lira ist, wie Sie wissen, 23 Franc wert.

Drei Soldaten gehen an mir vorbei. Ich höre ihr Gespräch.

›Ich habe Unmengen von Albanern getötet‹, sagt der eine, ›aber bei keinem einzigen habe ich auch nur einen Groschen gefunden. Doch als ich dann eine Bula (ein junges türkisches Bauernweib) abgeschlachtet hatte, fand ich bei ihr zehn Goldlire.‹

Und über all das wird hier ganz offen, ruhig und gleichmütig gesprochen. Es ist etwas Alltägliches. Die Leute merken selbst nicht, was für eine riesige innere Veränderung die wenigen Kriegstage in ihnen hervorgerufen haben. Wie sehr doch der Mensch von den Umständen abhängt! In einer Atmosphäre organisierter Brutalität des Krieges werden die Menschen bald selbst brutal, ohne sich dessen bewußt zu sein.

Auf der Hauptstraße marschiert ein Zug von Soldaten. Ein betrunkener und allem Anschein nach schwachsinniger Türke schimpft ihnen hinterher. Die Soldaten bleiben stehen, stellen den Türken an das nächste Haus und erschießen ihn auf der Stelle. Dann gehen die Soldaten weiter, und auch die Menge auf der Straße setzt ihren Weg fort. Die Angelegenheit ist erledigt.

Am Abend begegne ich im Hotel einem Korporal, den ich kenne. Seine Abteilung steht bei Ferizović, dem Zentrum der Albaner in Altserbien. Mit seinen Soldaten hatte der Korporal ein schweres Belagerungsgeschütz über den Kocanik-Paß nach Skopje geschleppt, das von da aus nach Odrin (Adrianopel) geschickt wurde.

›Und was machen Sie jetzt in Ferizović‹, frage ich, ›unter den Albanern?‹

›Wir braten Hühner und schlachten Arnauten. Aber das haben wir schon über‹, fügt er mit einem Gähnen hinzu und begleitet seine Worte mit einer Geste von Müdigkeit und Gleichgültigkeit. ›Aber es gibt unter ihnen sehr reiche Leute. In der Nähe von Ferizović kamen wir in ein Dorf, ein reiches Dorf, mit Häusern wie Burgen. Wir gingen in so ein Haus. Der Besitzer war ein reicher alter Mann, und er hatte drei Söhne bei sich. Es waren also vier, aber Frauen hatten sie viele, sehr viele. Wir führten sie alle aus dem Haus heraus, stellten die Weiber in einer Reihe auf und schlachteten die Männer vor ihren Augen ab. Es passierte nichts, die Weiber heulten nicht, und es sah aus, als wäre ihnen alles egal. Sie baten uns nur, daß wir sie ins Haus lassen sollten, damit sie ihren Weiberkram holen könnten. Wir ließen sie. Und sie brachten jedem von uns teure Geschenke mit heraus. Dann steckten wir das ganze Anwesen in Brand.‹

›Aber hören Sie, wie konnten Sie sich nur so bestialisch aufführen?‹ frage ich schockiert.

Die im Jahre 1492 errichtete Moschee des Mustafa Pascha in Skopje (Foto: Robert Elsie, 2007)

Die im Jahre 1492 errichtete Moschee des Mustafa Pascha in Skopje (Foto: Robert Elsie, 2007)



Die im Jahre 1492 errichtete Moschee
des Mustafa Pascha in Skopje
(Foto: Robert Elsie, 2007)

›Da kann man nichts machen, man gewöhnt sich dran. Manchmal war mir allerdings auch unbehaglich zumute, wenn ich zum Beispiel einen alten Mann oder einen unschuldigen kleinen Jungen töten sollte; aber es sind Kriegszeiten, und sie wissen ja selbst: Die Vorgesetzten befehlen, und Sie haben diese Befehle auszuführen. Es ist so manches passiert in dieser Zeit. Als wir das Geschütz nach Skopje schleppten, begegneten wir unterwegs einem Wagen, auf dem vier Bauern lagen, die bis zum Gürtel zugedeckt waren. Ich spürte sofort den Geruch von Jodoform. Eine verdächtige Angelegenheit. Ich hielt den Wagen an und fragte, wer sie waren und wohin sie wollten. Sie schwiegen und taten, als würden sie kein Serbisch verstehen. Aber sie hatten einen Kutscher dabei, einen Zigeuner, und der erklärte: Alle vier seien Albaner, hätten an der Schlacht bei Merdar teilgenommen, seien an den Beinen verwundet worden und führen jetzt nach Hause. Damit war alles klar. ›Kommt runten‹, sagte ich. Sie begriffen, was das hieß, sträubten sich und wollten nicht absteigen. Was sollte ich da machen? Ich setzte mein Bajonett an und machte alle vier fertig, oben auf dem Wagen...‹

Und diesen Menschen kannte ich nun. Er war Kellner gewesen in Kragujevac. Ein junger Bursche, ohne besondere Eigenschaften, absolut keine Kämpfernatur, ein Kellner eben, wie es überall viele gibt. Eine Zeitlang war er in der Kellner-Gewerkschaft, war wohl sogar für kurze Zeit Sekretär, aber dann legte er das Amt wieder nieder... Und nun kann man sehen, was zwei oder drei Wochen Krieg aus ihm gemacht haben.

›Aus Leuten wie Ihnen sind doch richtige Banditen geworden! Sie töten und stehlen alles ohne Unterschied!‹ rief ich aus und wich, von körperlichem Ekel gepackt, vor meinem Gesprächspartner zurück.

Der Korporal wurde verlegen. Offenbar kamen irgendwelche Erinnerungen wieder, er verglich und überlegte. Und dann sprach er, um sich zu rechtfertigen, voller Überzeugung und gewichtig einen Satz aus, der ein noch schlechteres Licht auf alles warf, was ich gesehen und gehört hatte.

›Aber nein! Wir, die regulären Streitkräfte, wahren unsere Grenzen und töten niemanden unter zwölf Jahren. Über die Komitadshi kann ich wahrscheinlich nichts Genaues sagen, bei denen ist es etwas anderes. Aber für die Armee verbürge ich mich.‹

Für die Komitadshi wollte sich der Korporal nicht verbürgen. Und diese wahrten in der Tat absolut keine Grenzen. Größtenteils aus Nichtstuern, Banditen, verdorbenen Elementen des Lumpenproletariats und überhaupt aus dem Abschaum der Bevölkerung rekrutiert, verwandelten sie Mord, Diebstahl und Gewalt in einen wilden Sport. Ihre Taten sprachen zu deutlich gegen sie - sogar die Militärbehörden waren in Unruhe ob des blutigen Bacchanals, zu dem der Četnik-Kampf degeneriert war, und griffen zu drastischen Maßnahmen: Ohne das Kriegsende abzuwarten, entwaffneten sie die Komitadshi und schickten sie nach Hause.

Länger hatte ich nicht mehr die Kraft, diese Atmosphäre zu ertragen -ich bekam keine Luft mehr. Das politische Interesse und die kolossale moralische Neugier - mit eigenen Augen zu sehen, wie das gemacht wird - waren total weg, einfach verschwunden. Geblieben war nur der eine Wunsch, so schnell wie möglich dem hier zu entkommen. Und so fand ich mich dann erneut im Viehwaggon wieder. Ich schaute auf die unermeßliche Ebene um Skopje: solch eine Schönheit, solch eine Weite, wie gut könnte es sich der Mensch hier einrichten, aber nein... Doch was soll ich Ihnen das erzählen, Sie kennen diese Gedanken ja selber, nur habe ich sie dort mit zehnfacher Kraft gespürt. Fünfzehn Minuten nachdem der Zug den Bahnhof verlassen hatte, sah ich zweihundert Schritte vom Bahndamm entfernt eine Leiche liegen, die einen Fes auf dem Kopf hatte; sie lag mit dem Gesicht nach unten und hatte die Arme ausgebreitet. Und fünfzig Schritte näher zu den Gleisen standen zwei serbische Landwehrmänner, von den Truppen, die den Bahndamm schützten; sie unterhielten sich und lachten dabei, einer zeigte auf die Leiche. Offenbar war das ihr Werk. Weiter, nur fort von hier!

Nicht weit von Kumanovo entfernt, auf einer Wiese neben den Gleisen, hoben Soldaten riesige Gruben aus. Ich fragte, wofür. Man antwortete mir, für das verfaulte Fleisch, das hier in 15 oder 20 Waggons auf dem Abstellgleis stand. Wie sich herausstellte, erschienen die Soldaten nicht, um sich ihre Fleischration abzuholen. Alles, was sie brauchten, und noch mehr nahmen sie sich direkt aus den albanischen Häusern: Milch, Käse, Honig. ›In dieser Zeit habe ich bei den Albanern mehr Honig gegessen als mein ganzes Leben zuvor‹, erzählte mir ein Soldat, den ich kannte. Die Soldaten schlachten jeden Tag Ochsen, Schafe, Schweine und Hühner, was sie schaffen, essen sie, den Rest werfen sie weg. ›Fleisch brauchen wir überhaupt nicht‹, sagte mir ein Proviantverwalter, ›was wir brauchen, ist Brot. Wir haben hundertmal nach Belgrad geschrieben, sie sollen uns kein Fleisch schicken, aber dort geht alles nach Schema F‹«.

Und so sieht das nun alles aus der Nähe betrachtet aus: Es fault das Fleisch, sowohl das von Menschen als auch das von Ochsen; Dörfer haben sich in Feuersäulen verwandelt; Menschen, »nicht unter zwölf Jahre« alt, rotten sich gegenseitig aus; alle werden brutal und verlieren ihre menschlichen Eigenschaften. Wenn man auch nur ein Zipfelchen des Vorhangs über den Taten militärischen Heldenmuts anhebt, entpuppt sich der Krieg in erster Linie als eine abscheuliche Sache.

 

[Aus der Zeitung Kiewskaja Mysl, Kiew, Nr. 355, 23. Dezember 1912. Gedruckt in Balkany i balkanskaja vojna, in der Ausgabe Leo Trotzki, Sotschinenja, Bd. 6 (Moskau & Leningrad 1926). In deutscher Sprache veröffentlicht in Leo Trotzki, Die Balkankriege 1912-13 (Essen: Arbeiterpresse 1996), S. 297-303.]

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